OLG München: Aufhebung eines Urteils des LG Traunstein nach mangelhafter Beweiserhebung
„Das Oberlandesgericht München hat ein Urteil des Landgerichts Traunstein deutlich kritisiert und es zusammen mit dem gesamten zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben. Das LG habe mehrere Fehler in der Urteilsabfassung begangen. Etwa gelte das Sichtfahrgebot auch gegenüber einem bei Dunkelheit auf der rechten Fahrbahnseite gehenden volltrunkenen Fußgänger. Weiter sei ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten, das den Unfall vorwiegend unter strafrechtlichen statt zivilrechtlichen Gesichtspunkten bewertet, unzureichend. Es sei von Amts wegen auf seine Vollständigkeit und Richtigkeit zu überprüfen und mit den Schilderungen der Parteien abzugleichen. Im Zweifelsfall seien die Parteien – zwingend – anzuhören, was hier nicht geschehen sei.
Sachverhalt
Der Kläger war am 04.02. gegen 06.00 Uhr als Fußgänger am rechten Fahrbahnrand in Fahrtrichtung des nachfolgenden Beklagten auf einer Straße unterwegs. Seine BAK betrug 1,47 Promille. Es kam zur Kollision mit dem Pkw des Beklagten.
Der Kläger wurde schwer verletzt und begehrt 50%igen Schadensersatz. Das Landgericht wies die Klage ab. Nach dem hier mitgeteilten Urteil des Oberlandesgerichts über seine Berufung hat er zumindest vorläufig Erfolg. Das landgerichtliche Urteil wurde samt dem ihm zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück verwiesen. Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz sowie gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht wurden, werden nicht erhoben.
Rechtliche Würdigung
Das OLG beanstandete schon, dass das Erstgericht den Sachverhalt nicht ausgeschöpft habe, indem es keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe. Eine solche wäre schon deshalb zwingend geboten gewesen, weil beide Parteien sich im Strafverfahren nicht äußerten und ihre Anhörung in der Verhandlung zwingend angezeigt gewesen wäre. Dem Gutachter und dem Gericht sei dadurch die Möglichkeit genommen gewesen, eine unmittelbare Unfalldarstellung zu erhalten. Damit sei auch dem Gericht die Möglichkeit genommen gewesen, das Gutachten auf Vollständigkeit zu prüfen.
Es sei auch zu bedenken, dass der Sachverständige weder Diplom-Ingenieur sei noch für Unfallanalytik öffentlich vereidigt und bestellt war. Auch sei der Sachverständige bereits im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren tätig gewesen und habe unter strafrechtlichen Gesichtspunkten geprüft, ob dem Beklagten ein schuldhafter Verkehrsverstoß nachgewiesen werden kann.
Der Sachverständige habe zwar mit dem Beklagtenfahrzeug einen Bremsversuch durchgeführt aber die dabei ermittelte Bremsverzögerung von (nur!) 6 m/sek² sei erläuterungsbedürftig. Wurde die Messung mit einem selbstschreibenden Messgerät durchgeführt? Handelt es sich dabei um die mittlere Verzögerung? Es erschließe sich nicht, warum der mit ABS ausgestatte Pkw nicht durchschnittliche und übliche Verzögerungswerte von 7,5 m/sek² erreichen konnte, zumal der Beklagte für schlechteres Bremsverhalten beweisbelastet wäre.
Auch enthalte das schriftliche Sachverständigengutachten aus erster Instanz keine Beurteilung der Licht- und Sichtverhältnisse. Schließlich gehe das Landgericht auch hinsichtlich des Gebotes des Fahrens auf Sicht von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Die ermittelte Reichweite der Scheinwerfer sei zumindest ungewöhnlich.
Durch den Vertrauensgrundsatz begrenzt werde das Sichtfahrgebot nur für solche Hindernisse, mit denen der Kraftfahrer unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen müsse. Ein dunkelgekleideter, auf der Fahrbahn gehender Fußgänger, gehöre nicht zu derartigen Hindernissen.
Die Alkoholisierung des Klägers hätte im Übrigen mitverschuldenserhöhend nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn weitere Feststellungen, wie sich die Alkoholisierung auf den Unfall ausgewirkt habe, getroffen worden wären.
Nach alledem sei der Senat an die Beweiswürdigung des Erstgerichts nicht gebunden. Das gesamte Verfahren erster Instanz müsse wiederholt werden. Der Senat konnte die umfangreiche Beweisaufnahme nicht selbst durchführen, weshalb das Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden musste.“
Zitiert nach:
Redaktion FD-StrVR, Urteilsanmerkungen FD-StrVR 2015, 370298
OLG München, Urteil vom 12.06.2015 – 10 U 3981/14 (LG Traunstein), BeckRS 2015, 10738