Rechtsstaatswidrige Tatprovokation durch verdeckte Ermittler Verfahrenshindernis
BGH ändert Rechtsprechung
„Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation durch verdeckte Ermittler der Polizei führt zur Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses. Dies hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 10.06.2015 klargestellt und ein Urteil des Landgerichts Bonn aufgehoben, durch das zwei Beschuldigte wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln zu Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Damit ist in Deutschland erstmals die rechtswidrige Überredung von Bürgern zu Straftaten durch die Polizei oder von ihr gesteuerter Personen als ein Verfahrenshindernis anerkannt worden. Ursächlich für die Rechtsprechungsänderung war eine im Oktober 2014 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefällte Entscheidung (Az.: 2 StR 97/14).
V-Mann arbeitete mit Drohungen
Hintergrund des Verfahrens war ein vager Tatverdacht gegen die zwei Männer, diese könnten in Geldwäsche- und Betäubungsmittelstraftaten verstrickt sein. Nachdem eine langfristige Observation sowie umfangreiche Überwachungsmaßnahmen diesen Verdacht nicht bestätigt hatten, setzte die Polizei mehrere verdeckte Ermittler aus Deutschland und den Niederlanden ein, die über einen Zeitraum von mehreren Monaten versuchten, die Beschuldigten dazu zu bringen, ihnen große Mengen „Ecstacy“-Tabletten aus den Niederlanden zu besorgen. Die Beschuldigten weigerten sich, dies zu tun. Erst als einer der verdeckten Ermittler drohend auftrat und ein anderer wahrheitswidrig behauptete, wenn er seinen Hinterleuten das Rauschgift nicht besorge, werde seine Familie mit dem Tod bedroht, halfen die Beschuldigten in zwei Fällen ohne jedes Entgelt bei der Beschaffung und Einfuhr von Ecstacy aus den Niederlanden. Diese Feststellungen hatte das LG (Az.: 21 KLs 4/12 900 Js 721/10) auf der Grundlage der Einlassungen der Angeklagten getroffen, weil die Polizei nicht bereit war, die verdeckten Ermittler offen als Zeugen vernehmen zu lassen.
Bisherige Berücksichtigung über „Strafzumessung“ nicht ausreichend
Nach bisher ständiger Rechtsprechung des BGH und des Bundesverfassungsgerichts reichte es in Fällen einer solchen rechtsstaatswidrigen Tatprovokation durch Polizeibeamte zur Kompensation des Eingriffs aus, wenn die Strafe für den Angeklagten gemildert wurde. Der EGMR hat am 23.10.2014 (BeckRS 2015, 80007) aber entschieden, dass eine solche „Strafzumessungslösung“ nicht ausreiche, um die Menschenrechtsverletzung zu kompensieren, die darin liegt, dass ein unschuldiger, unverdächtiger Mensch zum „Werkzeug“ der Kriminalpolitik gemacht wird, indem staatliche Behörden selbst ihn anstiften, eine Straftat zu begehen, um diese anschließend – zur Abschreckung anderer – bestrafen zu können. Daher war die Bundesrepublik in einem anderen Fall vom EGMR verurteilt worden.
Rechtsprechung geändert
Der BGH hat vor diesem Hintergrund die Rechtsprechung geändert. Da der Begriff der sogenannten rechtsstaatwidrigen Tatprovokation, wie ihn der EGMR definiert, weiter sei als der des BGH – also die Voraussetzungen bereits bei geringeren aktiven Einflussnahmen erfüllt sind –, gelte der Rechtssatz des EGMR, wonach eine bloße Strafmilderung nicht ausreicht, jedenfalls auch in allen Fällen, in denen der BGH eine rechtsstaatswidrige Provokation als gegeben ansieht.
Keine Vorlage an Großen Senat für Strafsachen
Auf der Rechtsfolgenseite war der BGH nach der jetzt ergangenen Entscheidung daher nicht an die bisherige Rechtsprechung gebunden, weil diese durch die Entscheidung desEGMR überholt ist und der BGH gehalten ist, die europarechtliche Rechtsprechung des EGMR in nationales Recht umzusetzen, um weitere Verurteilungen der Bundesrepublik wegen Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Daher sei auch eine Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen nicht geboten gewesen. Denn über die Rechtsfrage, die sich gestellt habe, sei auf der Grundlage der neuen menschenrechtlichen Rechtsprechung vom BGH noch nicht entschieden worden.
Möglichkeit einer „abgestuften“ Lösung nicht Gegenstand des Verfahrens
Der BGH hat offen gelassen, ob die Rechtsfolge einer Verfahrenseinstellung aufgrund eines endgültigen Verfahrenshindernisses in allen Fällen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation eintreten muss, wie es die Rechtsprechung des EGMR allerdings nahe lege, oder ob eine „abgestufte“ Lösung je nach der konkreten Schwere der Menschenrechtsverletzung möglich wäre. Bei der Sachlage im konkreten Fall habe er auf der Basis der Feststellungen des LG jede andere Kompensation ausgeschlossen.“
BGH, Urteil vom 10.06.2015 – 2 StR 97/14
Quelle: Mitteilung beck-aktuell, Verlag C.H.BECK, 10. Juni 2015