Erstmalige Ermessensausübung im Prozess gegen Ausweisung
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die Ausländerbehörden ihr Ausweisungsermessen während des Klageverfahrens ausüben dürfen, sofern sich erst dann die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung ergibt.
Diese Ermessenserwägungen sind der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung zugrunde zu legen.
Der Entscheidung lag der Fall eines Irakers zugrunde, der 2002 nach Deutschland gekommen war und hier eine Ukrainerin geheiratet hatte. 2006 wurde der Kläger wegen Vergewaltigung einer Fünfzehnjährigen zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Wegen dieser Straftat wurde er ausgewiesen, ohne dass der Behörde damals – auf Grund der Schwere der Tat – Ermessen eröffnet war (sog. Ist-Ausweisung). Erst während des Klageverfahrens wurde der Kläger dann als Flüchtling anerkannt. Die Ausländerbehörde übte daraufhin das Ermessen, das ihr nunmehr durch den besonderen Ausweisungsschutz eröffnet war, erstmals aus und hielt an der Ausweisung fest. Das Oberverwaltungsgericht Münster hob die Ausweisungsverfügung im Berufungsverfahren auf: Die Ermessenserwägungen, die die Behörde im gerichtlichen Verfahren eingeführt habe, dürften vom Gericht nicht berücksichtigt werden, weil die erstmalige Ausübung von behördlichem Ermessen im Klageverfahren prozessrechtlich unzulässig sei (§ 114 Satz 2 VwGO).
Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat diese Entscheidung aufgehoben.
Für die gerichtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung ist nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht mehr wie zuvor auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung, sondern nunmehr auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen. Das Ausländerrecht verpflichtet somit die Ausländerbehörden, die für eine Ausweisung notwendigen Ermessenserwägungen zu treffen, auch wenn sich dazu erst während des gerichtlichen Verfahrens Anlass bietet. Daraus folgt, dass auch neue entscheidungserhebliche Tatsachen, die nach der behördlichen Entscheidung eingetreten oder bekanntgeworden sind, vom Gericht berücksichtigt werden müssen, um die Ausweisungsverfügung möglichst aktuell und abschließend beurteilen zu können. Das gilt auch dann, wenn die Behörde ihr Ermessen im Prozess erstmalig ausübt, weil sich die Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich geändert hat. In dem hier vorliegenden Fall, in dem über eine vom Gesetz ursprünglich zwingend vorgegebene Ausweisung auf Grund nachträglicher Änderungen der Sachlage im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung zu befinden war, bedeutet dies, dass die Behörde ihre Ermessensausübung nachholen darf und ihre Erwägungen der gerichtlichen Prüfung zugrunde gelegt werden müssen.
Die Vorschrift des § 114 Satz 2 VwGO steht dem nicht entgegen. Sie verbietet die gerichtliche Berücksichtigung erstmalig angestellter Ermessenserwägungen jedenfalls dann nicht, wenn sich – wie hier – die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung erst im gerichtlichen Verfahren ergibt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Sache daher an das Berufungsgericht zurückverwiesen, damit dort die Rechtmäßigkeit der Ausweisung auf aktueller Tatsachengrundlage und unter Berücksichtigung der Ermessenserwägungen der Ausländerbehörde geprüft wird.
BVerwG 1 C 14.10 – Urteil vom 13. Dezember 2011
Vorinstanzen:
OVG Münster, 18 A 1450/09 – Urteil vom 29. Juni 2010
VG Münster, 8 K 734/08 – Urteil vom 26. Mai 2009
zitiert nach der Pressemitteilung Nr. 109/2011 vom 13. Dezember 2011 des Bundesverwaltungsgerichts