BVerfG: Betroffener hat Anspruch auf Rohmessdaten im Bußgeldverfahren
Bundesverfassungsgericht stärkt Stellung des Betroffenen im Bußgeldverfahren
Mit einem Beschluss vom 12.11.2020 hat das Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die den Zugang des Betroffenen im Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu Informationen betrifft, die nicht Teil der Bußgeldakte waren.
U.a. Verfassungsgericht des Saarlandes hatte Anspruch schon 2018 bejaht
Schon der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat in einem Beschluss vom 27.04.2018, Aktenzeichen Lv 1/18 einen Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die Messdaten Die Nichtzugänglichmachung einer lesbaren Falldatei mit Token-Datei und Passwort sowie der Statistikdatei verletzen das Gebot eines fairen Verfahrens und das Gebot des rechtlichen Gehörs. Das aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgende Gebot der Waffengleichheit erfordert, dass im Bußgeldverfahren ebenso, wie dem “Ankläger” Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, einen Tatvorwurf nachzuweisen.
Wir hatten dazu in unserem Blog schon 2018 berichtet!
Diese Entscheidung wurde von einigen Gerichten eher als Ausreißer “belächelt”. Das OLG Bamberg hatte noch in seinem Beschluss vom 13.06.2018, Aktenzeichen 3 Ss OWi 626/18 keinen Verstoß gegen das rechtliche Gehör und ein faires Verfahren bei Nichtbeiziehung von nicht zu Akten gelangten Messdateien gesehen. Eine gewisse “Häme” gegenüber der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Saarlandes war in der Entscheidung erkennbar!
Nun Verfassungsbeschwerde zum Zugang zu Rohmessdaten erfolgreich
Am 12.11.2020 hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die den Zugang des Betroffenen im Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu Informationen betrifft, die nicht Teil der Bußgeldakte waren. Der Beschwerdeführer begehrte zunächst im Rahmen des behördlichen Bußgeldverfahrens erfolglos Zugang zu Informationen, unter anderem der Lebensakte des verwendeten Messgeräts, dem Eichschein und den sogenannten Rohmessdaten, die sich nicht in der Bußgeldakte befanden.
Der gegen den anschließend erlassenen Bußgeldbescheid eingelegte Einspruch blieb vor den Fachgerichten erfolglos. Der begehrte Zugang zu den Informationen wurde dem Beschwerdeführer auch von den Fachgerichten vor seiner Verurteilung nicht gewährt.
Nichtgewährung der Informationen verletzt Recht auf faires Verfahren
Die Entscheidungen der Fachgerichte verletzen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 I i.V.m. 20 III 3 GG.
Sachverhalt der Entscheidung
Der Beschwerdeführer beantragte im Rahmen eines Bußgeldverfahrens wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung Einsicht insbesondere in die gesamte Verfahrensakte, die Lebensakte des Messgerätes, die Bedienungsanleitung des Herstellers, die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung und in den Eichschein des verwendeten Messgerätes.
Bußgeldbehörde übermittelte nur Bußgeldakte, Messprotokoll, Messergebnis, Eichschein und Bedienungsanleitung
Die Bußgeldstelle gewährte daraufhin Einsicht in die Bußgeldakte, die neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis auch den Eichschein des eingesetzten Messgerätes enthielt. Die Bedienungsanleitung zu dem verwendeten Messgerät wurde dem Beschwerdeführer als Datei auf der Internetseite der Bußgeldstelle zugänglich gemacht.
Bezüglich der übrigen angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass diese nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden.
Gegen den anschließend erlassenen Bußgeldbescheid legte der Beschwerdeführer Einspruch ein und wiederholte sein Gesuch. Einen Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Amtsgericht als unzulässig, da der Beschwerdeführer nicht mehr beschwert sei. Aufgrund des Einspruchs werde nunmehr im gerichtlichen Bußgeldverfahren eine umfassende Prüfung erfolgen, ob der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfene Straßenverkehrsordnungswidrigkeit tatsächlich begangen habe.
In der Hauptverhandlung wies das Amtsgericht die Anträge des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Hauptverhandlung und gerichtliche Entscheidung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 238 Abs. 2 StPO zurück, verurteilte ihn wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h zu einer Geldbuße und erteilte ihm ein einmonatiges Fahrverbot.
Auch Gericht lehnte weiteren Zugang zu Messdaten ab
Der begehrte Zugang zu den Informationen wurde dem Beschwerdeführer zuvor nicht gewährt. Das Amtsgericht führte zur Begründung der Verurteilung aus, bei einer Geschwindigkeitsmessung mit dem zum Einsatz gekommenen Messgerät handele es sich um ein sogenanntes standardisiertes Messverfahren. Das Gerät sei geeicht gewesen und durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Herstellers eingesetzt worden. Die Richtigkeit des gemessenen Geschwindigkeitswerts sei damit indiziert. Konkrete Anhaltspunkte, die geeignet wären, Zweifel an der Funktionstüchtigkeit oder der sachgerechten Handhabung des Messgeräts und deshalb an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen, seien im Rahmen der Hauptverhandlung nicht entstanden und auch im Vorfeld vom Beschwerdeführer nicht vorgetragen worden.
Ständige Rechtsprechung des OLG Bamberg und des BayObLG zum Recht auf Einsichtnahme in die der Messung zugrundeliegenden Unterlagen und Daten über Bord geworfen?
Das Oberlandesgericht Bamberg vertritt in ständiger Rechtsprechung, wie auch das BayObLG die Auffassung, dass ein Recht auf Einsichtnahme in die der Messung zugrundeliegenden Unterlagen und Daten nicht bestehe. Die „Lebensakte“ sei nicht Bestandteil der Gerichtsakte und daher nicht vom Akteneinsichtsrecht des Betroffenen umfasst. Es verstoße auch nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren oder rechtliches Gehör, wenn das
Gericht dem Betroffenen die Einsicht in die Messdaten verweigere, wenn es sich aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt habe, dass die Voraussetzungen eines standardisierten Messverfahrens eingehalten wurden (Beschlüsse vom 5.9.2016 – 3 Ss OWi 1050/16 – [kein Anspruch auf Überlassung der Rohmessdaten]; vom 24.8.2017 – 3 Ss OWi 1162/17 – [kein Anspruch auf Einsichtnahme in die digitale Messdatei, in die Statistikdatei und auf Überlassung von Rohmessdaten]; vom 4.10.2017 – 3 Ss OWi 1232/17 – [kein Anspruch auf Einsicht in die Lebensakte bei einer Abstandsmessung]; jeweils Juris).
Das Bayerische Oberste Landesgericht hat sich dieser Auffassung mit Beschlüssen vom 9. Dezember 2019 (202 ObOWi 1955/19, Juris) und vom 6. April 2020 (201 ObOWi 291/20, Juris) angeschlossen. Die Beiziehung von nicht bei der Akte befindlichen Unterlagen sei allein anhand von Aufklärungsgesichtspunkten zu prüfen.
Oberlandesgericht Bamberg verwarf Rechtsbeschwerde zu Unrecht
Das Oberlandesgericht Bamberg verwarf die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde und führte unter anderem aus, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vorliege, da es allein um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht gehe. Der Betroffene habe im Verfahren ausreichende prozessuale Möglichkeiten, sich aktiv an der Wahrheitsfindung zu beteiligen. Eine Beiziehung von Beweismitteln oder Unterlagen sei allerdings unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt geboten.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechts auf ein faires Verfahren durch die Fachgerichte.
Verfassungsbeschwerde erfolgreich: Karlsruhe klopft auch OLG Bamberg und BayObLG auf die Finger
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Verfassungsbeschwerde begründet.
Recht auf ein faires Verfahren verletzt
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Recht auf ein faires Verfahren.
reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht bei standardisierten Messverfahren
Von Verfassungs wegen sei zwar nicht zu beanstanden ist, dass die Fachgerichte von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgegangen seien.
Bei diesen Messverfahren seien nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen. Bestehen keine Bedenken gegen die Richtigkeit des Messergebnisses, genügt deshalb zum Nachweis eines Geschwindigkeitsverstoßes grundsätzlich die Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der ermittelten Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz und des berücksichtigten Toleranzwertes. Bei standardisierten Messverfahren sind daher im Regelfall – ohne konkrete Anhaltspunkte für eventuelle Messfehler – die Feststellungs- und Darlegungspflichten des Tatgerichts reduziert. Dem Betroffenen bleibt aber die Möglichkeit eröffnet, das Tatgericht auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Hierfür muss er konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen. Die bloße Behauptung, die Messung sei fehlerhaft, begründet für das Gericht keine Pflicht zur Aufklärung.
Bußgeldverfahren ist Massenverfahren
Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren sei nicht zu beanstanden. Hierdurch würde gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüft werden muss. Dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen könne durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen werden.
Recht auf ein faires Verfahren erfordert Kenntnisnahmemöglichkeit von Ermittlungsinhalten
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.
Auch Ermittlungsinhalte außerhalb der Akte erfasst
Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist in Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten.
Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose Ausforschung, erhebliche Verfahrensverzögerungen und Rechtsmissbrauch zu verhindern. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen.
Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.
Durch die Gewährung eines solchen Informationszugangs wird der Rechtsprechung zu standardisierten Messverfahren nicht die Grundlage entzogen. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Fachgerichte nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert.
Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Im Übrigen bleiben die Möglichkeiten zur Ablehnung von Beweisanträgen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.
Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messvorgangs muss gewährt sein
In dem Verfahren des Beschwerdeführers haben die Fachgerichte bereits verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgt. Entgegen der Annahme der Fachgerichte kam es dem Beschwerdeführer insbesondere auch nicht auf die Erweiterung des Aktenbestandes oder der gerichtlichen Aufklärungspflicht an. Vielmehr ging es ihm um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messvorgangs, um – gegebenenfalls – bei Anhaltspunkten für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses die Annahme des standardisierten Messverfahrens erschüttern zu können.
Im Ergebnis hat diese Auffassung auch der VERFASSUNGSGERICHTSHOF FÜR DAS LAND BADEN-WÜRTTEMBERG in der Verfassungsbeschwerde vom 14.12.2020, Aktenzeichen 1 VB 64/17 bestätigt. Der BWVerfGH hatte dabei die Entscheidung des BVerfG noch nicht zur Kenntnis nehmen und einbeziehen können.
Quelle / Fundstelle / Zitat:
Beschluss des BVerfG vom 12. November 2020, Aktenzeichen 2 BvR 1616/18
Pressemitteilung des BVerfG Nr. 105/2020 vom 15. Dezember 2020
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