Saarländischer Verfassungsgerichtshof stärkt Stellung des Betroffenen im Bußgeldverfahren
Werden in einem Bußgeldverfahren dem Betroffenen vorhandene Messdaten auf Antrag hin nicht in lesbarer Form herausgegeben, damit er die Plausibilität des Messergebnisses prüfen kann, verletzt das die Grundsätze rechtlichen Gehörs und eines fairen gerichtlichen Verfahrens. Lehnt in einem Bußgeldverfahren ein Gericht es ab, dem Betroffenen den Standorteichschein des ortsfesten Rotlichtüberwachungsgeräts vorzulegen und verwertet es einen solchen Eichschein als gerichtsbekannt, verletzt das das Grundrecht auf rechtliches Gehör.
Anspruch auf Einsicht in die Messdaten / Falldatei
Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hat in einem Beschluss vom 27.04.2018, Aktenzeichen Lv 1/18 einen Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in die Messdaten Die Nichtzugänglichmachung einer lesbaren Falldatei mit Token-Datei und Passwort sowie der Statistikdatei verletzen das Gebot eines fairen Verfahrens und das Gebot des rechtlichen Gehörs. Das aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgende Gebot der Waffengleichheit erfordert, dass im Bußgeldverfahren ebenso, wie dem „Ankläger“ Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, einen Tatvorwurf nachzuweisen.
Sachverhalt:
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen einen Bußgeldbescheid des Landesverwaltungsamts, mit dem wegen fahrlässigen Missachtens des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage gegen ihn eine Geldbuße festgesetzt wurde.
Mit Bußgeldbescheid des Landesverwaltungsamtes – Zentrale Bußgeldbehörde – vom 15.9.2016 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen fahrlässigen Missachtens des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage eine Geldbuße in Höhe von 90 Euro festgesetzt. Dem Bußgeldbescheid lag eine am 5.8.2016 um 5:14 Uhr in Saarbrücken an dem vom Beschwerdeführer geführten Lkw mit der kombinierten Geschwindigkeits- und Rotlichtüberwachungsanlage PoliScan F1 HP der Firma V. durchgeführte Rotlichtmessung zugrunde. Der Beschwerdeführer hat, vertreten durch die Verfahrensbevollmächtigte, gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt.
Das Messgerät V. PoliScan F1 HP verwendet einen Laserscanner zur Abtastung der Oberfläche von Fahrzeugen, welche sich auf der Fahrbahn befinden. Über deren Vorwärtsbewegung in einem bestimmten Zeitraum wird die Geschwindigkeit bestimmt. Zudem kann das Modell PoliScan F1 HP die Rotlichtzeichen einer Lichtzeichenanlage überwachen und bei Missachtung eine Erfassung
mit Lichtbild anfertigen.
Die Verfahrensbevollmächtigte gab zur Überprüfung der Richtigkeit der Rotlichtmessung, die dem Bußgeldbescheid, der dem Beschwerdeführer gegenüber ergangen ist, zugrunde liegt, privat eine Begutachtung durch einen Sachverständigen in Auftrag. Dieser benötigte zur Durchführung der Überprüfung der mittels des Messgeräts PoliScan F1 HP erfolgten Rotlichtmessung des Beschwerdeführers die digitale Falldatei dieser Messung, die weiteren Falldateien der Messreihe, die Token-Datei, das Passwort und die Statistikdatei. Daher beantragte die Verfahrensbevollmächtigte bei der Stadt Saarbrücken, die die Messung durchgeführt hatte, bzw. dem Landesverwaltungsamt die Herausgabe dieser Dateien. Die Stadt Saarbrücken übersandte daraufhin der Verfahrensbevollmächtigten am 16.10. 2016 per E-Mail eine Falldatei. Deren Inhalt konnte allerdings nicht festgestellt werden, da die Token-Datei und das Passwort nicht übermittelt wurden. Diese sind allerdings auf Grund einer besonderen Verschlüsselung zum Öffnen von PoliScan-Falldateien erforderlich. Die TokenDatei und das Passwort sollten, so die Stadt Saarbrücken, für einen Betrag von 150,00 Euro bei der Hessischen Eichdirektion erworben werden. Eine Statistikdatei, erklärte die Stadt, sei nicht vorhanden bzw. werde „im Hause nicht erstellt“.
Hierzu teilte das von der Verfahrensbevollmächtigten beauftragte Sachverständigenbüro mit, dass bei dem verwendeten Messgerät Messstatistiken automatisch angefertigt werden und daher auch ohne händische „Erstellung“ vorhanden sein müssten. Zudem wurde nach Abgabe der Sache durch die Stadt Saarbrücken an das Landesverwaltungsamt von der Verfahrensbevollmächtigten bei diesem beanstandet, dass sich in der Verfahrensakte nur ein Eichschein des Messgeräts befindet. Nach der Bauartzulassung des Messgeräts PoliScan F1 HP der Physikalisch-Technischen
Bundesanstalt muss bei der Rotlichtüberwachung außer dem eigentlichen Gerät auch der Standort des Geräts geeicht werden. Daher müssen zwei Eichscheine existieren. Das Landesverwaltungsamt teilte dazu mit, dass ein Eichschein zum Standort nicht existiere.
Die Sache wurde schließlich an das Amtsgericht Saarbrücken abgegeben. Auf einen dort gestellten Antrag auf Herausgabe der Messdaten hin teilte das Amtsgericht der Verfahrensbevollmächtigten mit, diese möge sich wegen der Messdaten an die Verwaltungsbehörde wenden. Gleichzeitig verfügte das Amtsgericht, dass die Rohmessdaten der tatgegenständlichen Messung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Verwaltungsbehörde zugänglich zu machen seien. Da diese Verfügung der Verfahrensbevollmächtigten zunächst nicht bekannt war, stellte sie am 9.2.2017 gemäß § 62 OWiG einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit dem Ziel, die Verwaltungsbehörde zur Herausgabe von Token-Datei, Passwort und Statistikdatei zu verpflichten. Am gleichen Tag gab das Amtsgericht unter Hinweis auf die bevorstehende Hauptverhandlung am 17.2.2017 erneut der Verwaltungsbehörde auf, die in dem Antrag genannten Messdaten an die Verfahrensbevollmächtigte herauszugeben. Eine Reaktion des Landesverwaltungsamtes oder der Stadt Saarbrücken hierauf erfolgte nicht.
Daher beantragte die Verfahrensbevollmächtigte in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Saarbrücken vom 17.2.2017 erneut, ihr die digitalen Falldaten inklusive der unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamtem Messserie, die Token-Datei, das zugehörige Passwort sowie die Statistikdatei zur Verfügung zu stellen und das Verfahren auszusetzen, bis die gewünschten Daten ihr vorlägen, und für den Fall einer Ablehnung des Aussetzungsantrags gemäß § 238 Abs. 2 StPO darüber einen Gerichtsbeschluss zu fassen. Es wurde hierbei nochmals im Einzelnen gegenüber dem Gericht begründet, wofür die Daten benötigt würden und dass im Vorfeld der Hauptverhandlung mehrfach und dezidiert bei verschiedenen Stellen versucht worden sei, an die Messdaten zu gelangen.
Den Aussetzungsantrag lehnte das Gericht durch Beschluss ab und führte sinngemäß aus, dass man eine Geschwindigkeit „messen“ könne, nicht aber einen Rotlichtverstoß und daher auch keine „Messdaten“ vorliegen könnten. Statt von einer Messung des Fahrzeugs sei von einer Erfassung zu sprechen. Einer Einsicht in die Dateien anderer gemessener Fahrzeuge stehe außerdem das Datenschutzgrundrecht entgegen. Zudem stellte die Verfahrensbevollmächtigte einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens. Dieser wurde unter anderem damit begründet, dass ein standardisiertes Messverfahren bereits deshalb nicht vorliege, weil ein Eichschein zum Standort nicht existiere und dies einen Verstoß gegen die Bauartzulassung darstelle. Das Gericht lehnte den Beweisantrag gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ab. Im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung führte der Vorsitzende dann aus, die Problematik um den fehlenden Eichschein zum Messstandort sei ihm bereits aus anderen Verfahren bekannt. Auf derartige Förmlichkeiten komme es ihm jedoch nicht an; entscheidend sei allein die materielle Richtigkeit der von der Überwachungsanlage ausgegebenen Ergebnisse.
Durch das Urteil wurde gegen den Beschwerdeführer eine Geldbuße von 90 Euro verhängt. In den Gründen des Urteils hieß es, es liege eine ordnungsgemäße Eichung vor. Aus anderen Verfahren sei gerichtsbekannt, dass auch eine Eichung zum Standort stattgefunden habe und ein Eichschein existiere, auch wenn dieser sich nicht in den Akten befunden habe.
Gegen dieses Urteil wurde mit Schriftsatz vom 3.4.2017 die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt. Der Antrag wurde unter anderem damit begründet, es liege durch die Nichtherausgabe der Rohmessdaten, wodurch die Äußerungsmöglichkeiten vor Gericht zur Messrichtigkeit vereitelt worden seien, eine Gehörsverletzung vor. Auch in der Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrags liege ein Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör. Ein solcher Verstoß sei ferner darin zu sehen, dass das Gericht von einem existierenden Standort-Messschein ausgegangen sei, ohne dass dies dem Betroffenen oder seiner Verfahrensbevollmächtigten bekannt gewesen sei.
Auch nach Ergehen des Urteils wurde von der Verfahrensbevollmächtigten die Einsicht in die Messdaten weiterhin erfolglos bei dem Landesverwaltungsamt und der Stadt Saarbrücken beantragt. Am 5.4.2017 sandte die Stadt Saarbrücken per E-Mail erneut einen PoliScan-Falldatensatz, jedoch ohne Token-Datei und Passwort, so dass auch dieser nicht analysiert werden konnte.
Mit Beschluss vom 29.6.2017 gab eine andere Abteilung des Amtsgerichts Saarbrücken, ohne dass ein erneuter Antrag gestellt worden wäre, der Verwaltungsbehörde auf, die Rohmessdaten, die Token-Datei und das Passwort an die Verfahrensbevollmächtigte herauszugeben. Nach Übersendung dieser Entscheidung an die Stadt Saarbrücken teilte diese gleichwohl mit, dass allenfalls eine Einsichtnahme in die Falldatei in den Räumlichkeiten der Behörde in Betracht komme. Davon wurde von Seiten der Verfahrensbevollmächtigten kein Gebrauch gemacht, da zu diesem Zeitpunkt das Urteil bereits ergangen war, die Begründungsfrist für den Zulassungsantrag abgelaufen und zudem die Rohmessdaten durch einen Sachverständigen begutachtet werden sollten, welcher hierfür eine Spezialsoftware benötige, die nur für den (stationären) Arbeitsplatzrechner in dessen Räumlichkeiten lizensiert sei.
Mit Beschluss vom 25.10.2017 verwarf das Saarländische Oberlandesgericht den Zulassungsantrag als unbegründet und führte u.a. aus: Eine Gehörsverletzung im Zusammenhang mit dem Eichschein sei nicht ordnungsgemäß in Sinne des § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG in Verbindung mit § 344 Abs. 2 StPO gerügt, da die Verfahrensrüge außer der Angabe, es sei durch das Amtsgericht kein Hinweis auf die beabsichtigte Verwertung einer gerichtsbekannten Tatsache erteilt worden, keine Angaben darüber enthalte, ob die gerichtsbekannte Tatsache nicht auch in anderer Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden sei. Hinsichtlich der Messdaten begründe deren bloße Nichtherausgabe keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, da das Gericht seine Überzeugung gerade nicht auf diese Messdaten gestützt habe. Eine Zulassung der Rechtsbeschwerde auf Grund eines fair-trial-Verstoßes durch das Amtsgericht analog § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG komme nicht in Betracht, da der Gesetzgeber bei einer Geldbuße bis zu 100 Euro ohne Nebenfolge die Zulassung der Rechtsbeschwerde bewusst auf Versagungen des rechtlichen Gehörs beschränkt habe. Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten worden sei, dass vor einer Überlassung von Messdaten eine Ablehnung eines Beweisantrages auf Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG nicht möglich sei mit der Folge, dass eine gleichwohl erfolgte Ablehnung willkürlich und damit ein Gehörsverstoß sei, betreffe diese Rechtsprechung nur Ausnahmefälle und sei vorliegend nicht anwendbar.
Eine Anhörungsrüge, mit der die Behandlung der Gehörsrüge hinsichtlich des Eichscheins als unzulässig beanstandet wurde, wurde mit Beschluss vom 30.11.2017 – Ss Rs 17/2017 (30/17 OWi) –, eingegangen bei der Verfahrensbevollmächtigten am 5.12.2017, zurückgewiesen.
Gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts Saarbrücken und des Saarländischen Oberlandesgerichts hat der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 2.1.2018 Verfassungsbeschwerde erhoben. Er sieht – unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens im ordnungswidrigkeitsrechtlichen Verfahren – seine Grundrechte auf ein faires Verfahren (Art. 60 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 SVerf), rechtliches Gehör (Art. 60 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Satz 1 SVerf) und eine willkürfreie Entscheidung (Art. 60 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 SVerf) als verletzt an.
Fundstelle / Zitat:
Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 27.04.2018, Aktenzeichen Lv 1/18, Veröffentlichung Homepage
Unser Fazit:
Diese Entscheidung lässt die Herzen der Verteidiger höher schlagen! Wenn auch wahrscheinlich nur für kurze Zeit! Das Gericht hatte einen Anspruch des Betroffenen auf Messdaten und Standorteichschein bejaht.
Aber: unerfreuliche Neuigkeiten aus Bamberg!
Allerdings gibt es zu dieser Entscheidung des VerfGH Saarbrücken auch schon wieder eine ablehnende Entscheidung aus Bamberg!
Das OLG Bamberg hat nämlich mit Beschluss vom 13.06.2018, Aktenzeichen 3 Ss OWi 626/18 keinen Verstoß gegen das rechtliche Gehör und ein faires Verfahren bei Nichtbeiziehung von nicht zu Akten gelangten Messdateien bejaht!
Am Ende wird alles gut: Bundesverfassungsgericht bestätigt Saarländischen Verfassungsgerichtshof
Am 12.11.2020 hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die den Zugang des Betroffenen im Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu Informationen betrifft, die nicht Teil der Bußgeldakte waren. Der Beschwerdeführer begehrte zunächst im Rahmen des behördlichen Bußgeldverfahrens erfolglos Zugang zu Informationen, unter anderem der Lebensakte des verwendeten Messgeräts, dem Eichschein und den sogenannten Rohmessdaten, die sich nicht in der Bußgeldakte befanden.
Wir berichten hier: BVerfG: Betroffener hat Anspruch auf Rohmessdaten im Bußgeldverfahren
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