EuGH: EU-Staaten dürfen nach Verkehrsverstoß ausländischen Führerschein („EU-Führerschein“) in ihrem Hoheitsgebiet für ungültig erklären
„Einem EU-Führerscheininhaber kann von einem anderen Mitgliedstaat das Recht abgesprochen werden, in seinem Hoheitsgebiet zu fahren, nachdem er dort einen Verkehrsverstoß begangen hat, der geeignet ist, seine fehlende Fahreignung herbeizuführen. Dies stellt der Gerichtshof der Europäischen Union klar. Allerdings dürfe dieses Recht nicht unbegrenzt verwehrt werden, und die Bedingungen für die Wiedererlangung der Erlaubnis müssten den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten, heißt es in dem Urteil vom 23.04.2015 (Az.: C-260/13).
Österreicherin fuhr in Deutschland unter Cannabis-Einfluss
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist österreichische Staatsangehörige und wohnt in Österreich unweit der deutschen Grenze. Nach einer Polizeikontrolle in Deutschland ergab die Untersuchung der Blutprobe, dass die Betroffene unter Einfluss von Cannabis gefahren war und dass sie dieses Rauschmittel zumindest gelegentlich konsumierte. Die deutschen Behörden meinten daher, dass sie nicht in der Lage sei, das Fahren und den Konsum berauschender Mittel voneinander zu trennen, und dass sie daher zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Der Betroffenen wurde daher das Recht abgesprochen, mit ihrem österreichischen Führerschein in Deutschland zu fahren. Sie wurde darüber informiert, dass sie ihr Recht, in Deutschland zu fahren, wiedererlangen kann, wenn sie ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegt, das in der Regel vom Nachweis der Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während eines Jahres abhängig ist.
Österreich belässt Klägerin des Ausgangsverfahrens Führerschein
In Österreich wurde die Betroffene hingegen weiterhin als zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet angesehen und behielt demnach ihren Führerschein. Die österreichischen Behörden schreiten nämlich nur ein, wenn eine fehlende Fahreignung wegen des Konsums berauschender Mittel medizinisch festgestellt wird oder wenn Anzeichen bestehen, die eine Abhängigkeit von diesen Mitteln vermuten lassen. Nach dem Protokoll des deutschen Arztes, der die Blutprobe genommen hatte, stand die Betroffene jedoch nicht merkbar unter dem Einfluss berauschender Mittel.
Angerufenes VG Sigmaringen legt Sache EuGH vor
Die Betroffene rief das Verwaltungsgericht Sigmaringen an, um gegen die deutsche Verwaltungsentscheidung vorzugehen, mit der ihr das Recht abgesprochen wurde, von ihrem österreichischen Führerschein (EU-Führerschein) in Deutschland Gebrauch zu machen. Ihrer Ansicht nach waren nur die österreichischen Behörden für die Beantwortung der Frage zuständig, ob sie noch zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet war. In diesem Zusammenhang fragt das VG Sigmaringen denEuGH, ob die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine (EU-Führerscheine), wie sie sich aus der Richtlinie 2006/126 über den Führerschein ergibt, der streitigen Entscheidung entgegensteht (DAR 2013, 410).
EuGH: EU-Mitgliedstaat darf Führerscheinen für sein Hoheitsgebiet Gültigkeit aberkennen
Der EuGH antwortet, dass die Richtlinie über den Führerschein einen EU-Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, nicht daran hindert, die Anerkennung der Gültigkeit dieses EU-Führerscheins wegen einer Zuwiderhandlung seines Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach Ausstellung des Führerscheins stattgefunden hat und die gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats geeignet ist, die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen herbeizuführen. Zwar sei nach der Richtlinie nur der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes befugt, Maßnahmen der Einschränkung, der Aussetzung, des Entzugs oder der Aufhebung eines von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerscheins, die ihre Wirkungen in allen Mitgliedstaaten entfalten, zu ergreifen. Jedoch erlaube die Richtlinie jedem Mitgliedstaat (und nicht nur dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes), wegen der in seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung des Inhabers eines zuvor in einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen Führerscheins Maßnahmen nach seinen nationalen Rechtsvorschriften zu ergreifen, deren Tragweite auf dieses Hoheitsgebiet beschränkt ist und deren Wirkung sich auf die Ablehnung beschränkt, in diesem Gebiet die Gültigkeit dieses Führerscheins anzuerkennen.
Ziel der Erhöhung der Verkehrssicherheit maßgeblich
Einen Mitgliedstaat zu zwingen, die Gültigkeit eines EU-Führerscheins in einer Situation wie der in Rede stehenden bedingungslos anzuerkennen, liefe dem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Erhöhung der Verkehrssicherheit, das die Richtlinie gerade verfolgt, zuwider, so der EuGH. Zwar stelle die einem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, dem Inhaber eines EU-Führerscheins wegen einer auf seinem Hoheitsgebiet begangenen Zuwiderhandlung die Erlaubnis zu entziehen, in diesem Gebiet zu fahren, eine Beschränkung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine dar. Allerdings sei diese Beschränkung, mit der die Gefahr von Verkehrsunfällen verringert werden kann, geeignet, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen, was im Interesse aller Bürger sei.
Aberkennender Mitgliedstaat darf auch Bedingungen für Wiederanerkennung des Führerscheins festlegen
Des Weiteren stellt der Gerichtshof fest, dass der Mitgliedstaat, der es ablehnt, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer Situation wie der in Rede stehenden anzuerkennen, dafür zuständig ist, die Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wiederzuerlangen, in seinem Hoheitsgebiet zu fahren. Da nämlich die Weigerung eines Mitgliedstaats, die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins anzuerkennen, auf nationalen Regeln beruhe, die es nicht zwangsläufig in den Rechtsvorschriften des Ausstellermitgliedstaats gebe, erscheine es schwerlich vorstellbar, dass die Rechtsvorschriften dieses letztgenannten Staates die Bedingungen vorsehen, die der Inhaber eines Führerscheins erfüllen müsste, um das Recht wiederzuerlangen, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu fahren.
Anerkennung darf nicht auf unbestimmte Zeit versagt werden
Der EuGH weist allerdings auf seine Rechtsprechung hin, wonach ein Mitgliedstaat nicht auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerscheins versagen kann, wenn auf den Inhaber dieses Führerscheins im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eine einschränkende Maßnahme angewandt wurde.
VG Sigmaringen muss Verhältnismäßigkeit der deutschen Maßnahmen prüfen
Es sei Sache des VG Sigmaringen, zu untersuchen, ob sich Deutschland durch die Anwendung seiner eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt der Anerkennung des österreichischen Führerscheins der Klägerin des Ausgangsverfahrens entgegenstellt. In dieser Hinsicht sei es auch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob die von den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehenen Voraussetzungen für die Wiedererlangung des Rechts, in Deutschland zu fahren, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten und insbesondere nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des von der Richtlinie verfolgten Ziels (nämlich der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr) angemessen und erforderlich ist, so der EuGH. Hierzu stellt er fest, dass nach den Angaben der deutschen Regierung, selbst wenn kein medizinisch-psychologisches Gutachten vorliegt, das Recht, in Deutschland von einem in einem anderen Mitgliedstaat erteilten Führerschein Gebrauch zu machen, vollständig wiedererlangt wird, wenn nach Ablauf einer bestimmten Frist (nämlich fünf Jahre im Fall der Klägerin des Ausgangsverfahrens) die Eintragung des Eignungsmangels aus dem deutschen Fahreignungsregister getilgt worden ist. So könne die Klägerin des Ausgangsverfahrens nach Ablauf dieser Frist erneut von ihrem Führerschein in Deutschland Gebrauch machen, ohne ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegen zu müssen.
EuGH hält deutsche Regelungen für angemessen
In Anbetracht dieser Angaben, deren Überprüfung Sache des VG Sigmaringen ist, stellt der EuGH fest, dass die deutschen Bestimmungen der Anerkennung des Führerscheins der Klägerin des Ausgangsverfahrens offenbar nicht unbegrenzt entgegenstehen. Außerdem erscheine die Tatsache, dass die Wiedererlangung des Rechts, in Deutschland ein Kraftfahrzeug zu führen, durch die Betroffene von der Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (dessen Erstellung den Nachweis der Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während der Dauer eines Jahres voraussetzt) oder vom Ablauf eines Zeitraums von fünf Jahren abhängig gemacht wird, nach Ansicht des Gerichtshofs als ein wirksames und zum Ziel der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr im Verhältnis stehendes Präventionsmittel.“